Freiarbeit

In der Freiarbeit geht es um die Einübung von Aktivität, Entscheidungskraft, Ausdauer, Selbstständigkeit und Verantwortung. Die Unterrichtsform der „Freiarbeit“ ist an unserer Schule aber auch deshalb von grundlegender Bedeutung, weil durch sie die individuellen Voraussetzungen aller Kinder berücksichtigt werden können. Während der Freiarbeit können sowohl lernschwache als auch hochbegabte Kinder so gefördert werden, dass den unterschiedlichen Bedürfnissen einer gemeinsamen Lerngruppe Rechnung getragen und soziale Integration ermöglicht wird.

In der Regel beginnt der Schulmorgen mit zwei Stunden Freiarbeit. In dieser Zeit wählen die Kinder selbstständig oder mit Hilfe der Lehrerin aus der sorgfältig vorbereiteten Lernumgebung  eine Arbeit aus. Sie arbeiten in ihrem Tempo, ohne den Druck, in einer ganz bestimmten Zeit mit einer Übung fertig sein zu müssen. Mit der Wahl einer Arbeit ist aber die Verpflichtung verbunden, sie möglichst auch zu Ende zu führen.

Während der Freiarbeit gelten folgende Regeln, die für eine erfolgreiche Arbeit unerlässlich sind:

  1. Das Material wird immer von dem Kind, das es geholt hat, an den angestammten Platz  zurückgebracht.
  2. Eine angefangene Arbeit soll möglichst beendet werden, bevor eine neue begonnen wird. Eine langfristig angelegte Arbeit kann unterbrochen und an den folgenden Tagen beendet werden.
  3. Der Arbeitsplatz wird nach einer beendeten Arbeit aufgeräumt.
  4. Niemand darf bei seiner Arbeit gestört werden.
  5. Weder die Lehrerin noch Kinder rufen, schreien oder machen sich auf andere Weise laut bemerkbar.
  6. Benötigt ein Kind Hilfe, fragt es zunächst andere Kinder, erst danach macht es sich bei der Lehrerin leise bemerkbar.

Ein typischer Arbeitszyklus, der nicht immer vollständig gelingt, umfasst drei Phasen:
Zunächst entscheidet sich das Kind für eine Arbeit und holt zur Vorbereitung alle benötigten Gegenstände auf seinen Platz. Dabei kann der Arbeitsplatz sowohl ein Tisch als auch ein Teppich auf dem Boden sein. Dann folgt die Phase der Vertiefung in die Arbeit. Sie kann je nach der Art des Kindes von unterschiedlicher Intensität und Ausdauer sein. Hier kann das Kind zur „Polarisation der Aufmerksamkeit“ kommen. Eine besondere Bedeutung hat auch die letzte Phase, die Phase der Ruhe. Während das Kind Rückschau auf die geleistete Arbeit hält, kann es sich mit der Lehrerin oder mit anderen Kindern über seine Entdeckungen und Einsichten austauschen und sich dadurch seines Lernzuwachses noch bewusster werden. Nach Beendigung einer Arbeit beginnt das Kind meist nach einer kurzen „Erholungspause“ mit einer neuen Aufgabe. Damit alle Kinder die grundlegenden Ziele erreichen, gehören bestimmte Materialien und Aufgaben zum „Pflichtpensum“ für alle Kinder eines Schuljahres. Dieses Pensum bildet auch die Grundlage für Lernkontrollen.

Zur Sicherung des Überblicks über die geleistete Arbeit der einzelnen Schüler/innen, dokumentiert die Lehrerin kontinuierlich Ergebnisse und besondere Beobachtungen. Durch die tägliche Übung, nach eigener Wahl zu arbeiten, wird die Entschlusskraft der Kinder gestärkt und oft ein erstaunliches Maß an Selbstständigkeit und Ausdauer entwickelt.

Freiarbeit ist eine anspruchsvolle Unterrichtsform, deren erfolgreiche Praktizierung an die Lehrer/innen und Schüler/innen hohe Anforderungen stellt. Daher bedarf es einer gründlichen Vorbereitung und Schulung der Lehrkräfte.

Interessantes zur Freiarbeit

Adler steigen keine Treppen

Der Pädagoge hatte seine Methoden aufs genaueste ausgearbeitet; er hatte – so sagte er – ganz wissenschaftlich die Treppe gebaut, die zu den verschiedenen Etagen des Wissens führt; mit vielen Versuchen hatte er die Höhe der Stufen ermittelt, um sie der normalen Leistungsfähigkeit kindlicher Beine anzupassen; da und dort hatte er einen Treppenansatz zum Atemholen eingebaut, und an einem bequemen Geländer konnten die Anfänger sich festhalten.

Und wie er fluchte, dieser Pädagoge! Nicht etwa auf die Treppe, die ja offensichtlich mit Klugheit ersonnen und erbaut worden war, sondern auf die Kinder, die kein Gefühl für seine Fürsorge zu haben schienen.

Er fluchte aus folgendem Grund: solange er dabeistand, um die methodische Nutzung dieser Treppe zu beobachten, die Stufe um Stufe emporgeschritten wurde, an den Absätzen ausgeruht und sich am Geländer festgehalten wurde, da lief alles ganz normal ab. Aber kaum war er für einen Augenblick nicht da: die Kinderhorde besann sich auf ihre Instinkte und fand ihre Bedürfnisse wieder: eines bezwang die Treppe genial auf allen vieren; ein anderes nahm mit Schwung zwei Stufen auf einmal und ließ die Absätze aus; es gab sogar welche, die versuchten, rückwärts die Treppe hinaufzusteigen, und die es darin wirklich zu einer gewissen Meisterschaft brachten. Die meisten aber fanden – und das ist ein nicht zu fassendes Paradoxon – , dass die Treppe ihnen zu wenig Abenteuer und Reize bot. Sie rasten um das Haus, kletterten die Regenrinne hoch, stiegen über die Balustraden und erreichten das Dach in einer Rekordgeschwindigkeit, besser und schneller als über die sogenannte methodische Treppe.

Der Pädagoge macht Jagd auf die Personen, die sich weigern, die von ihm für normal gehaltenen Wege zu benutzen. Hat er sich wohl einmal gefragt, ob nicht zufällig seine Wissenschaft von der Treppe eine falsche Wissenschaft sein könnte, und ob es nicht schnellere und zuträglichere Wege gäbe, auf denen auch gehüpft und gesprungen werden könnte; ob es nicht, nach dem Bild Hugos, eine Pädagogik für Adler geben könnte, die keine Treppen steigen, um nach oben zu kommen?

-Célestine Freinet-